Islamischer Fundamentalismus, die permanente Bedrohung (Teil 1/3)

Islamischer Fundamentalismus, die permanente Bedrohung (Teil 1/3)

Ende Juni 2014 verstarb Professor Mordechai Abir. Er lehrte Nahost- und Islam-Studien an der Hebräischen Universität, bevor er in den Ruhestand ging. Manfred Gerstenfeld interviewte ihn vor zwanzig Jahren für sein Buch Israel’s New uture. (Das Buch wurde letztes Jahr mit einer neuen Einleitung unter dem Titel Israel’s New Future Revisited neu veröffentlicht.) Damals war der islamische Fundamentalismus gegenwärtig, aber nicht das große Problem, zu dem er seitdem geworden ist. In dem Interview zeigte Abir große Voraussicht dazu, wie der Fundamentalismus sich entwickeln könnte. Unten folgt der erste Teil des Interviews. (Teil 2,Teil 3)

Manfred Gerstenfeld interviewt Mordechai Abir (1994) – direkt vom Autor

Mordechai Abir lehrt Nahost- und Islam-Studien an der Hebräischen Universität. Er hat Bücher zu so unterschiedlichen Themen wir Saudi-Arabien, Öl und Äthiopien veröffentlicht. Sein jüngstes Buch, Saudi Arabia, Government, Society and the Gulf Crisis (Saudi-Arabien, die Regierung, die Gesellschaft und die Golfkrise) behandelt den Hintergrund und Einfluss der Golfkrise von 1990/91 und den Krieg.

In einer Diskussion, die in Jerusalem stattfand, begutachtet er den vermutlichen Einfluss des muslimischen Fundamentalismus auf islamische Staaten, globale Stabilität und Israel. Er seziert und analysiert die verschiedenen Kräfte am Werk mit der Präzision eines Chirurgen. Seine nüchterne Beurteilung bietet Grund für Sorge, ebenso seine Warnung, dass Israels Führung jeden Schritt sorgfältig abwägen muss, den sie in Richtung auf Frieden mit der arabischen Welt und besonders der PLO unternimmt, um eine mögliche Katastrophe zu vermeiden.

Seine Studie zur muslimischen Welt konzentriert sich auf den steigenden Einfluss des Neofundamentalismus; der gesamte Rest, glaubt er, ist zweitrangig. Und jede Untersuchung der Trends in der muslimischen Welt muss mit der arabischen Welt anfangen, deren Rolle ausschlaggebend ist.

Trotz der Fassade des sagenhaften Ölreichtums stellt Abir fest, dass die riesige Mehrheit der Araber arm und rückständig geblieben ist. Nur ein paar wenige der mehr als 20 arabischen Staaten – hauptsächlich die spärlich besiedelten – genießen beträchtliche Ölreserven und keines dieser Länder neigt dazu diesen Reichtum mit anderen gleichberechtigt zu teilen.

Bevölkerungswachstum, fehlende Entwicklung und ein fallender Lebensstandard schaffen vor dem Hintergrund von die Massen umgehendem Ölreichtum ein Umfeld, das für Fundamentalismus reif ist. Das ist der Schlüsselfaktor für alle Veränderungen, die in den kommenden Jahren voraussichtlich in der arabischen Welt stattfinden werden.

Neufundamentalismus, so nennt Abir den gegenwärtigen Trend, unterscheidet sich stark vom „modernen“ Fundamentalismus, der im späten 19. Jahrhundert entstand; er steht aber in keinerlei Zusammenhang zu seinem Vorgänger.

Der „moderne“ Fundamentalismus von vor 100 Jahre kam auf, als die arabische und muslimische Welt mit der bitteren Wahrheit konfrontiert wurde: Sie hinkte der globalen Entwicklung hinterher. „Sie war nicht länger ein wichtiger Teil der zivilisierten Gesellschaft“, sagt Abir. „Sie gehörte zur Dritten Welt. Die verachteten, ungläubigen christlichen Gesellschaften hatten die Araber nicht nur in jedem Bereich überholt, sondern sie schließlich auch noch kolonisiert.“

Abir betont, dass Fundamentalismus seine Grundlage in der Suche nach Antworten auf Probleme hat, die durch die auf die Welt des Islam treffende neue Welt aufgeworfen werden. Jamal al-Din-al-Afghani, der Vater des modernen Fundamentalismus, glaubte, dass die westliche Kultur und Philosophie von der Technologie getrennt werden könnte, von der er behauptete, der Westen habe sie in Wahrheit von den Muslimen entlehnt und weiter entwickelt. Sein Volk, predigte er, sollte sich zurückholen, was rechtmäßig ihm gehörte; die anderen Aspekte der westlichen Zivilisation lehnte er insgesamt ab.

Die Botschaft hat im Lauf der Jahre gewisse Veränderungen erlebt, sagt Abir, doch die grundsätzliche Ablehnung der westlichen Werte und Hegemonie bleibt im Kern unverändert. Was sich verändert hat, sind die Taktiken.

Unter den Umständen einer Zukunft ohne Hoffnung lehren islamische Fundamentalisten, dass die wahre Antwort auf die Missstände der Gesellschaft und die persönlichen Probleme der Menschen in der Rückkehr zu den Wurzeln liegt – den ursprünglichen Lehren Mohammeds und seiner Anhänger, das Leben, das sie führten und den Erfolg, die sie in den ersten Jahrhunderten hatten“, erklärt Abir. Was bedeutet das? Er weist auf gewisse Anziehungspunkte des Lebens in den frühen Jahren des Islam hin: Die Gesellschaft war egalitärer und die Menschen sorgten für einander, als die muslimische Welt von strenggläubigen, rechtschaffenen Herrschern geführt wurde.

Die alte Schule des Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts, so die Muslimbrüder vor dem Zweiten Weltkrieg, strebten die Schaffung einer besseren Gesellschaft an“, sagt Abir. „Sie suchten nicht die Kontrolle über die Regierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand eine wichtige Veränderung statt: Die Muslimbrüder verlegten sich zunehmend auf Militanz und Terrorismus, um ihre Ziele zu erreichen.“

Diese Militanz führte zu einer zunehmend offenen Konfrontation zwischen Fundamentalisten und der erfolgreichen säkularen, nationalistischen panarabischen Bewegung, wie Nasser sie vertrat. „In Nassers Gefängnissen veränderten in den späten 1950-er Jahren einige Muslimbrüder ihren Ansatz komplett“, sagt Abir. „Sie glaubten nicht länger, dass eine säkulare Regierung sich in eine muslimische verwandeln konnte. Sie betrachteten Regierung und Gesellschaft als derart korrupt, dass sie sie von Grund auf neu aufbauen mussten, damit sie die Prinzipien des wahren Islam einhalten.“

Auf ihrer Suche nach totaler Veränderung, sagt Abir, begannen die Neofundamentalisten über Jihad – heiligen Krieg – nachzudenken, um ihre korrupten Regierungen zu stürzen und zu ersetzen. Sie setzten die arabischen Staaten mit den vorislamischen, Götzen dienenden Gesellschaften gleich. Die Neofundamentalisten lehnten das arabische Gemeinwesen ab, das sie mit westlicher Kultur, ihrem Materialismus und ihren philosophischen Grundlagen verbinden. Ihr führender Ideologe, Sayyid Qutb, der einige Jahre in den USA lebte, kehrte um 1950 nach Ägypten zurück, ganz und gar der westlichen Kultur entfremdet, die er beobachtete und verabscheute.

Qutb forderte die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel im Krieg gegen westlichen Einfluss. Sein oberstes Ziel: die örtlichen muslimischen Regierungen, die die Korruption und den Niedergang ihrer Gesellschaften zuließen. Er machte sie für die Einführung westlicher Missstände in die muslimische Gesellschaft verantwortlich. Er war außerdem überzeugt, dass diese Regierungen nicht in der Lage waren die sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Völker zu lösen.

Wie viele andere Muslimbrüder, die Nassers Regime ablehnten, wurde Qutb 1954 inhaftiert. Er wurde 1964 freigelassen, nur um 1966 vom Regime hingerichtet zu werden. Seine Bücher und Briefe aus dem Gefängnis hatten einen enormen Einfluss auf die Veränderung der Einstellung der Muslimbruderschaft. Sie stimulierten das Aufkommen des Neofundamentalismus in den 1960-er Jahren, seine Ausbreitung in den 1970-ern, seine weitere Verbreitung in den 1980-ern und die wachsende Militanz in den frühen 1990-ern.

Abir bringt das Bild auf den neuesten Stand: „Die Neofundamentalisten wollen das Gesellschaftssystem in eine von Juristen oder religiösen Führern regierte Theokratie verändern. Wir sehen heute einen militanten islamischen Fundamentalismus, der danach strebt arabische und muslimische Regime zu stürzen, um sie durch islamische zu ersetzen.“

„Sayyid Qutb und seine Anhänger fanden, dass der populäre Islam und der des Establishments, wie er in der islamischen Welt landläufig ausgeübt wird, den wahren Islam korrumpiert hatte“, sagt Abir. „Nach ihrer Auffassung war das schlimmer als die Lehren der Ungläubigen. Qutbs Anhänger hatten das Gefühl, dass sie sich aus den korrumpierten Gesellschaften lösen mussten, in denen sie lebten, um einen neuen Zirkel wahrer Muslime zu schaffen. Das gestalteten sie entsprechend des Hijra, des Umzugs Mohammeds von Mekka nach Medina. Das Denken der verschiedenen neofundamentalistischen Organisationen gründet immer auf dem Prinzip des Jihadund dass das Ziel die Mittel heiligt.

Das in diesem Ansatz zum Ausdruck gebrachte radikale Denken findet unter der Intelligenzia und den Massen in großen Teilen der frustrierten muslimischen Welt ein empfängliches Publikum. Abir hält fest, dass nur ein paar Millionen Araber tatsächlich den großen Reichtum genießen, der von den Öleinnahmen generiert wird. „Die muslimischen Habenichtse zählen rund 800 Millionen, darunter 200 Millionen Araber“, sagt er. „Ihr Lebensstandard verschlechtert sich ständig, weil sie sich so schnell vermehren. Das Wirtschaftswachstum vieler Länder kann dem nicht folgen. Doch die Habenichtse sind, zusammen mit einigen Intellektuellen, die sich ihnen angeschlossen haben, durch politischen Frust motiviert, der das Ergebnis des Niedergangs der muslimischen Macht gegenüber dem Westen ist.“

Er verweist auf das zeitgenössische Ägypten als typisches Beispiel. Armut lebt dort mit extremem Reichtum zusammen, stellt er fest; und der Lebensstandard der Massen verschlechtert sich weiter. Unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und die Grenzen der Zahl der Menschen, die durch die Landwirtschaft existieren können, tragen zur steigenden Migration in die Städte bei, denen die Infrastruktur fehlt, um sie aufzunehmen.

 

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