Das niederländische Nachkriegs-Judentum – Lehren für Europa

Das niederländische Nachkriegs-Judentum – Lehren für Europa

Manfred Gerstenfeld interviewt Bart Wallet (direkt vom Autor)

Wenn man die Entwicklungen im niederländischen Judentum nach dem Krieg analysiert, kann man viel von der Geschichte anderer europäischer jüdischer Gemeinschaften in diesem Zeitraum verstehen. Während einige der Aspekte dieser Geschichte spezifisch niederländisch sind, spiegeln andere auch die Realitäten an anderen Orten Westeuropas wider.

Bart Wallet ist ein nicht jüdischer Historiker an der Universität von Amsterdam; sein Spezialgebiet ist die Nachkriegsgeschichte des niederländischen Judentums. Gemeinsam mit anderen hat er das Buch „Shehecheyanu“ geschrieben, das die Nachkriegsgeschichte der aschkenasischen jüdischen Gemeinde in Amsterdam beschreibt.

Wallet sagt: Mehr als 100.000 der 140.000 Juden, die zu Beginn der deutschen Besatzung 1940 in den Niederlanden lebten, wurden ermordet. Als sich die niederländische jüdische Gemeinschaft nach dem Krieg neu gründete, wurde sie von dieser tragischen Realität enorm beeinflusst.

Es wurde eine stärkere Zentralisation als vorher notwendig. Viele jüdische Gemeinden konnten nicht länger die Dienste für ein integrales jüdisches Leben bieten. Daher gründete z.B. die NIK, der Dachverband der aschkenasischen Juden, eine zentrale Bildungskommission, um jüdischen Kindern in kleinen Städten eine jüdische Bildung zu ermöglichen.

Eine zweite Entwicklung war, dass die Gemeinschaft inklusiver wurde. Vor dem Krieg erhielten diejenigen, die ihre Gemeindemitgliedschaft nicht bezahlen konnten, keine vollen Rechte. Dasselbe galt für Auslandsjuden ohne niederländischen Pass. Das veränderte sich. In verschiedenen jüdischen Gemeinden wurde Frauen das Stimmrecht gewährt.

Dieser verstärkte Akzent auf der Inklusivität war auch mit der Stärkung des Zionismus unter den niederländischen Juden verbunden. Die Zionisten sagten, wer immer während der Schoah als Jude verfolgt wurde müsse in der Lage sein einen Platz in der jüdischen Gemeinschaft zu finden. Dieser Schwerpunkt verschob die Definition der jüdischen Identität von der vor dem Krieg religiösen hin zur national-ethischen.

Die anfängliche prozentuale Zunahme des organisierten Judentums nach dem Krieg war Folge der Tatsache, dass viele Juden wenig bis keine Familie mehr hatten. Sie wollten Kontakt zu anderen Juden haben. Andere wollten als Juden beerdigt werden. Gleichzeitig wollten viele Juden in keiner Weise an jüdischen Fragen beteiligt sein. Einige wurden getauft, während Hunderte andere ihre jüdisch klingenden Nachnamen änderten. Überraschenderweise kehrten einige davon viele Jahre später zum jüdischen Leben zurück. Israels Sechstagekrieg von 1967 löste für einige diese Gefühle aus, so dass sie sich nun mit Israel identifizierten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 500 jüdische Kinder, deren Eltern ermordet worden waren, von den Behörden nichtjüdischen Pflegeeltern übergeben, die sie während des Krieges versteckt hatten. Viele wurden als Christen aufgezogen. Die jüdische Gemeinschaft betrachtete sie als für das Judentum „verloren“. Als Erwachsene suchten allerdings viele nach ihren jüdischen Wurzeln und ihrer jüdischen Identität. Es kamen sogar einige führende Persönlichkeiten der niederländischen Juden aus dieser Gruppe hervor.

Der internationale jüdische Einfluss auf das niederländische Judentum nahm ebenfalls zu, wenn auch langsam. Ursprünglich galt das hauptsächlich für Israel, das Jugendleiter in die Niederlande schickte. Auch die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten hatten Einfluss. Das drückte sich in verschiedenen Richtungen aus, so dem Wachstum der liberalen Gemeinden wie auch dem Aufkommen der chassidischen Chabad-Bewegung.

Wallet merkt an: Jede Einteilung der Geschichte in Zeitabschnitte ist ein Konstrukt der Historiker, doch sie hilft die Vergangenheit besser zu verstehen. Der Zeitraum von 1945 bis 1955/1960 war der der Wiedergründung der jüdischen Infrastruktur und ihrer Adaption an die neuen Umstände. Während dieser Jahre gab es Spannungen zwischen der jüdischen Gemeinschaft, den niederländischen Behörden und der Gesellschaft im Allgemeinen. Das war zum Teil durch die Tatsache verursacht, dass die Behörden die besonderen Bedürfnisse der dezimierten jüdischen Gemeinschaft ignorierten.

Der Zeitraum von 1955 bis 1967 war von mehr Stabilität gekennzeichnet. Amsterdam, wo rund die Hälfte der niederländischen Juden lebte, baute zunehmend seine jüdische Infrastruktur auf. Andere Gemeinden nahmen an Zahl ab. Von 1967 bis 1990 wurde die Schoah zur zentralen Kultgeschichte des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden. Die jüdischen Gemeinden verwandelten sich in eine Art moralisches Gewissen der niederländischen Gesellschaft, in der sie eine wichtige Rolle erlangte.

Gleichzeitig nahm die interne Polarisation zu. In Amsterdam kam eine Gruppe ultraorthodoxer Juden auf. Auf der progressiven Seite gab es Forderungen nach mehr Demokratisierung, Frauenrechten und der Emanzipation von Homosexuellen. Diese allgemeinen Themen der niederländischen Gesellschaft ragten auch bei den Juden heraus. Die liberale jüdische Gemeinde übernahm sie, was zu Spannungen mit der nominell orthodoxen aschkenasischen Gemeinde führte.

Es gab auch Polarisation bezüglich Israel. Kleine Gruppen, die Israel kritisch gegenüber standen, warben für das palästinensische Narrativ. Wichtiger war, dass die große, nicht westliche Einwanderung – hauptsächlich durch Muslime – zu einer holländischen Weltsicht führte, die Niederlande sollten als multikulturelle Gesellschaft gesehen werden. Die integrierte jüdische Gemeinschaft wurde nun auch als kulturelle Minderheit gesehen.

Am Ende des letzten Jahrhunderts erhielt die erneuerte Debatte um die Rückerstattungen aus dem Holocaust in den niederländischen Medien große Aufmerksamkeit. Nach der Ermordung des populistischen Politikers Pim Fortuyn im Jahr 2002 kam ein neuer niederländischer Nationalismus auf. Der Druck auf alle religiösen Gemeinschaften nahm zu. Zuletzt hat das für die Juden anhaltende Angriffe auf ihre koschere Schlachtung und die Beschneidungsriten bedeutet.

 

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